Die Wahrheit erfährst Du oft erst, wenn, wenn Du bereits mittendrin steckst.
Vor meiner Karriere als Interim-Manager habe ich aus praktischer Erfahrung als Unternehmensberater gelernt, dass es drei ehrliche Gründe geben kann, warum ein Unternehmen einen externen Berater hinzuzieht:
- Um Spezial-Know How zu erwerben oder zumindest zu nutzen, das sie intern nicht haben oder nicht bereithalten wollen,
- Um fehlende Kapazitäten zu kompensieren, insbesondere um Veränderungsaktivitäten zu ermöglichen, und
- Um einen unvoreingenommenen externen Blick auf die interne Situation zu erhalten, möglicherweise kombiniert mit dem Mehrwert der Positionierung im Markt im Vergleich zu anderen.
Und dann gibt es eine Reihe von nicht so ehrlichen, nicht so anständigen Gründen, um externe Expertise zu nutzen: um heimliche verborgene Aktivitäten in internen Machtkämpfen zu befeuern, um die eigene Untätigkeit in Notfällen zu vertuschen, um einen Konkurrenten aus dem Rennen um die Spitze zu werfen ... Es gibt mehr solcher Fälle, als sich ein kranker Geist vorstellen kann.
Um ehrlich zu sein, hatte ich anfangs keine Ahnung davon, musste aber schnell dazulernen.
Als ich dann das Feld des Interim-Managements betrat, stieß ich auf einen ähnlichen Dualismus von Wahrnehmung und Realität, den ich gerne mit Euch teilen möchte.
1 Unangenehme Entdeckungen
Das Management eines Programms zur Zentralisierung von 25 regionalen Instanzen eines veralteten Kernbankensystems und dessen Ersatz durch ein neues und modernes System war eine gewaltige, aber prestigeträchtige Aufgabe. Gut, dass das Unternehmen dafür einige zusätzliche, qualifizierte Ressourcen unter Vertrag genommen hatte. Es sollte mithin machbar sein, so dachte ich.
Unter der sichtbaren Oberfläche hatte der Eisberg jedoch eine enorme Basis aus unsichtbaren Herausforderungen, denen begegnet werden musste, um den Erfolg zu gewährleisten.
- Die 25 Instanzen waren in sehr unterschiedlichem Zustand, in verschiedenen Versionen, wurden auf unterschiedliche Weise gemäß sehr unterschiedlichen Prozessen genutzt. Da Kunden in den Regionen unterschiedliche Vorlieben in Bezug auf die genutzten Bankprodukte hatten, war an diesen Stellen oft auch unterschiedliche Funktionalität implementiert worden.
- Verfügbarkeit und Sicherheit, obwohl nicht gerade berauschend und oft bemängelt, waren aufgrund des verteilten Risikos erträglich – mit der Zentralisierung war aber eine erhebliche Verbesserung erforderlich. Business Continuity Management, Standardarbeitsanweisungen und Cybersicherheit bedurften alle einer deutlichen Professionalisierung.
- Schließlich erfuhr ich, dass ich nicht der erste war, der diesen Auftrag erhielt. Einige Vorgänger hatten es vor mir versucht – und waren gescheitert. Die Hoffnung auf einen gemeinsamen Erfolg in dem inzwischen erschöpften Team zu nähren, erwies sich als keine leichte Aufgabe. Kurz gesagt, es stellte sich heraus, dass ich eine gute Gelegenheit haben würde, etwas „Spaß“ zu haben.
2 Glänzende Zahlen – verborgene Schulden
Nach einigen Jahren hatte ich eine zweite Chance zu glänzen – oder in die Falle zu tappen ...
Ein Manager einer Fachabteilung mit rund 60 Mitarbeitern bei einem Softwareanbieter für den öffentlichen Personentransport hatte plötzlich das „Handtuch geworfen“ und gekündigt. Sehr bald sollte ein neues, vielversprechendes Produkt der nächsten Generation auf dem ungeduldig wartenden Markt eingeführt werden. Alle finanziellen Zahlen, die der Zentrale gemeldet wurden, sahen gut bis hervorragend aus, vielleicht ein wenig zu gut.
Nur noch ein paar letzte Tests mussten durchgeführt werden, bevor der neue Stolz des Unternehmens in die freie Wildbahn entlassen werden konnte.
Diesmal bestand ich allerdings auf einer 6-wöchigen Analyse vor Übernahme meiner Aufgabe. Außerdem äußerte ich den Wunsch, zwei weitere Kollegen hinzuziehen zu können, die zwar erfahrene „alte Hasen“, aber gleichzeitig mit den neuesten Methoden vertraut waren – eine seltene Kombination. Ein unbestimmtes Bauchgefühl am Anfang sagte mir nämlich, dass ich alleine nicht in der Lage sein würde, die Herausforderungen all der verborgenen Schichten zu bewältigen, sollte es da mehr geben als auf den ersten Blick erkennbar war.
Und wie sich herausstellte, lauerten da tatsächlich einige Monster im Untergrund.
- Die „paar letzten Tests“ waren in Bezug auf Teamgröße und Fähigkeiten dramatisch unterbesetzt. Diese kritische Projektphase war, weil die Zeit am Ende knapp wurde, in einen lächerlich engen Zeitplan gepresst worden,
- Niemand hatte eine Ahnung, wie viele Fehler zu erwarten waren oder wie man sie schätzen sollte, die Anwendung von Fehlermodellen war unbekannt.
- Da die Entwicklung traditionell weit hinter dem Zeitplan lag, wurden notwendige Refaktorisierungsschritte verschoben oder ganz übersprungen, was zu einer nun fehlerhaften Architektur führte. Infolgedessen hatte sich im Laufe der Jahre eine riesige Menge technischer Schulden angesammelt.
- Als ob das nicht genug wäre, hatten Anschuldigungen und gegenseitige Vorwürfe innerhalb des Teams zu gestörter Kommunikation und in einigen Bereichen zu einer toxischen Kultur der Zusammenarbeit geführt.
- Es ist fast überflüssig zu erwähnen, dass in der Entwicklung, Wartung und Projektmanagement veraltete Methoden verwendet wurden,
- Unsere Kunden hatten ihre sensiblen Antennen bereits auf uns ausgerichtet. Bei Vor-Ort-Besuchen ließen sie uns an ihrem deutlichen Unbehagen teilhaben.
Die Liste könnte weitergehen, das aber Top-Management gab sich ahnungslos: Fehler passieren nun 'mal, keine Software ist frei davon. Warum können die Kunden denn niemals zufrieden sein?
3 Der Betrieb frisst Deine ganze Zeit
Bei meinem dritten Interim-Einsatz wurde ich beauftragt, Marktforschung, Bewertung, Auswahl, Einkauf und Einführung bis zum Go-Live einer neuen wichtigen Infrastruktursoftware durchzuführen. Ich war jetzt erfahrener, gut ausgerüstet mit meinem Sieben-Schritte-Auswahlverfahren und in guter Stimmung.
Und doch, da mein Vorgänger in dieser Rolle das Unternehmen plötzlich in einer Art Panikmodus verlassen hatte, fand ich dort eine große Verwirrung unter den Himmeln vor. Natürlich musste als kleine Nebenaufgabe, kaum erwähnenswert, das operative Geschäft überwacht werden.
Es stellte sich heraus, dass das operative Tagesgeschäft, durch eine miserable Datenqualität, kombiniert mit nicht vorhandenen Prozessdefinitionen und unterirdischen Fähigkeiten des unterbesetzten Teams, bis zu 80% meiner verfügbaren Zeit beanspruchte. Die hastige Implementierung einiger provisorischer Teilautomatisierungen durch Skripte und Bürosoftware konsumierte weitere 15%, was nur 5% für die Aufgabe ließ, für die ich engagiert worden war.
Mittlerweile hatte ich jedoch gelernt, dass ein Interim-Manager intern ist, das bedeutet, er kann von innen heraus agieren und Entscheidungen über Budget, Ziele und Ressourcenzuweisung im Allgemeinen beeinflussen. Am Ende rettete es mich, diese Karte zu spielen. Es ermöglichte mir, einen Berater zu engagieren, der mich bei den eher generischen und daher auslagerbaren Aufgaben unterstützte.
4 Diese Erfahrungen machten mich nachdenklich.
Was ist da passiert? Wurde ich absichtlich über die wahre Natur des Jobs im Unklaren gelassen? Wollten meine Kunden mich böswillig in eine Falle locken? Oder glaubten sie selbst wirklich und aufrichtig, was sie mir über die aktuelle Situation erzählten? Sahen sie nur die Spitze des Eisbergs und erkannten die darunter lauernden Bedrohungen nicht? Oder zogen sie es vor, nicht so genau hinzuschauen? Schließlich ist bisher immer alles gut gegangen, wie die Zahlen „bewiesen“.
Wenn es um Interim-Management geht, lautet das vorherrschende Narrativ „eine Vakanz überbrücken“. Es wird allgemein angenommen, dass ein Manager einer wichtigen Unternehmensfunktion aus irgendeinem Grund plötzlich ausfällt. Es kann einige Zeit dauern, bis ein neuer Manager, der richtige, ernannt wird und sich in die Rolle eingearbeitet hat. In der Zwischenzeit muss die Lücke gefüllt werden. Dieser kapazitätsbedingte Bedarf wird von denen als Hauptgrund angesehen, die weniger mit diesen Umständen zu tun haben – und in einigen Fällen entspricht dieses allgemeine Verständnis sogar der Realität.
Das Expertise-Argument gilt wie in der Beratung so auch hier, jedoch in Verbindung mit einer Umsetzung. Und schließlich kommt es manchmal sogar vor, dass de Wunsch, die Aktivitäten diesmal anders zu gestalten, z.B. durch die Einführung von Lean- oder Agile-Managementpraktiken, keine andere Wahl lässt, als die richtige Person für diese schwierige Aufgabe von außen zu engagieren, um eine turbulente Zeit zu bewältigen – bis sich der Staub gelegt haben würde.
Meistens jedoch wird schnell klar, dass es da noch mehr zu tun gibt.
Die ignorierten Schulden, die verborgenen Schichten, die ebenfalls bearbeitet werden müssen, existieren tatsächlich. Dass niemand davon wüsste, ist eher seltener der Fall. In den meisten Fällen haben die Kollegen eine recht gute Vorstellung von dem aufgestauten Handlungsbedarf sowie den Fähigkeiten und Möglichkeiten ihrer eigenen Organisation. Sie unterschätzen möglicherweise nur die Größe der Altlasten und ihre möglichen Auswirkungen.
Aber der Prophet gilt bekanntlich nichts in seiner eigenen Organisation. Jeder Überbringer schlechter Nachrichten wird beschuldigt, insgeheim eigennützige Motive zu verfolgen. Sie stehen für unangenehme Wahrheiten, die normalerweise zu deutlich mehr Aufwand, höheren Kosten und Terminverzügen führen würden. Das Management würde am liebsten gar keine Nachrichten hören, es sei denn, es sind gute Nachrichten. So schleicht sich eine Art „Hofberichterstattung“ ein: Die Zahlen, die nach oben gemeldet werden, sehen gut aus. Aber darunter schwelen die Probleme weiter – bis sie irgendwann nicht mehr verborgen werden können.
Die Schlussfolgerung lautet: Niemand will Dich in eine Falle locken oder lügt Dich absichtlich an. Vielmehr führen häufig Selbsttäuschung, bequeme Illusionen und gestörte Kommunikation oder erfolgreich geübte Ignoranz letztlich zu unangenehmen Entdeckungen.
Also sei besser auf eine Überraschung vorbereitet, wenn Du einmal etwas tiefer bohrst.