Moderne Zeiten – wer hat nicht schon über jenen Film mit Charly Chaplin gelacht? Ja, die modernen Zeiten verlangen dem Menschen schon so Einiges ab. Aber wir kühlen rationalen Verstandesmenschen sehen ja ein, dass Veränderungen notwendig sind und fügen uns.
Mobilität zum Beispiel. Da wird von einem jeden, der es zu einem gewissen Erfolg bringen möchte, oder auch nur anzeigen möchte, dass er für den möglichen Erfolg zu allerlei vorauseilenden Kompromissen bereit ist, Mobilität verlangt. Wir ziehen europa-, ja weltweit mit Sack und Pack und Kind und (wenn in der heutigen Zeit noch vorhanden) Kegel dorthin, wo es unser Arbeitgeber es wünscht, wo es noch lukrativ erscheinende Jobs gibt oder wo die Auftragslage eine ständige Präsenz zu erzwingen scheint.
Dafür nehmen wir einiges in Kauf. Die Kern-Familie wird, als müsse ihre Existenz bewiesen werden, von ihren nicht mehr zeitgemäßen Ausläufern abgetrennt: Oma, Opa, Tanten, Onkeln und anderen Verwandtschaftsgraden für die unsere Sprache kam mehr noch die Bezeichnungen kennt. Aber wir leben ja auch in modernen Zeiten. Unser unbedingter Freiheitswille, lässt es eben nicht mehr zu, dass wir unter einem herrischen Patriarchen in einer archaischen Großfamilie leben. Clan, Sippe, Stamm und ähnliche, völlig unzeitgemäße Worte kommen einem da in den Sinn. Oder wäre es nicht doch manchmal ganz hilfreich, wenn die Oma mal die Kinder nehmen und sie – vielleicht zusammen mit anderen Enkeln – eine Zeit lang hüten könnte? Wie stellen wir die 100%-24h-rund-um-die-Uhr-Totalbetreuung unserer Zöglinge bei Teilzeitberufstätigkeit und Lebenserfüllungsanspruch eigentlich sicher – ohne Tanten und Großmütter? Nun gut …
Weitere Opfer – manche sind sogar Menschenopfer: „Vater wird versetzt, Kind bleibt sitzen“. Wer glaubt, die Versetzung in den Kongo sei der ultimative GAU, der ist offenbar noch nicht mit schulpflichtigen Kindern von Bremen nach München gezogen. Die euphemistisch „Föderalismus“ genannte regionale Zersplitterung Deutschlands sei von den alliierten Besatzungsmächten nach Ende des 2. Weltkrieges als perfides Instrument angewandt worden, um das nieder geworfene Deutsche Reich als Kleinstaatenbund dauerhaft am Boden zu halten. Auf dass es sich dauerhaft mit sich selbst beschäftige – das jedenfalls behaupten böse Zungen. Wie es scheint, ist dieses Vorhaben glänzend gelungen. Die Erfahrungen, die der mobile Bürger mit den verschiedenen Schulwesen der deutschen Länder macht, legen diesen Verdacht jedenfalls nahe. Nun, einige unserer ehemaligen Feinde und neuen Freunde haben da ja auch ihre einschlägigen Erfahrungen in ihren tragischerweise verloren gegangenen Kolonien machen können – als Übungsterrain sozusagen.
Aber was soll’s? Alte Zöpfe gehören abgeschnitten. Warum auch an der Scholle kleben. Wir leben eben nicht mehr als Bauern von, mit und in unserem Boden. Wer weiß denn noch, wie Erde riecht? Mal ehrlich, sehen wir die „Natur“ denn nicht im Wesentlichen im Fernsehen, durch die Autoscheiben unserer schnellen Limousinen oder vielleicht noch im Zoo? Und die Paletten mit Stiefmütterchen, die wir im Frühling beim Gärtner kaufen und ins Vorgartenbeet setzen, damit es genau so knatsche-bunt aussieht, wie der ganzjährig mit bunten Plastik-Ostereiern behängte (später so schön rosa blühende) Zierpflaumenbaum, reißen wir im Herbst doch ohnehin wieder heraus und werfen sie auf den Müll. O.k., das können wir überall haben. Dafür müssen wir nicht in der heimischen Vorstadtsiedlung wohnen. Und überhaupt, schaut euch doch einmal die Nomaden der Steppe an. Bei denen geht es doch auch!
Hmmm, erst so zukunftsgerichtet und jetzt plötzlich dieser Rückgriff auf überholte Lebensformen. Aber gut, folgen wir dieser Aufforderung doch einmal für einen Moment: Die Nomaden, das sind die Menschen, die umherziehen, um nicht in wirtschaftliche Schwierigkeiten zu kommen. Es gibt unterschiedliche Formen des Nomadentum, die Beduinen der Wüste, die Nenzen im sibirischen Norden, die Yamana als Wassernomaden vor Kap Hoorn, die indonesischen Orang Laut als Seenomaden oder die pygmäischen Twa im Kongourwald. So unterschiedlich, dass wir uns für die nähere Betrachtung schon ein Beispiel heraussuchen müssen.
Vielleicht nehme ich den Durrani-Stamm, bei dem in im Jahre 1971 im Norden Afghanistans einmal zu Gast war. Sehr gastfreundlich waren sie tatsächlich. Nicht weil sie „nett“ gewesen wären. Nein es gehört zu ihrem Kodex, dem Wanderer, der um Schutz und Unterkunft bittet, beides zu gewähren und ihn darüber hinaus zu bewirten. Und tatsächlich wurde in angemessenem Abstand von den Frauenzelten ein Teppich auf dem Wüstenboden ausgebreitet, ein etwas streng schmeckendes reichhaltiges Abendbrot serviert und nachts schlief links und rechts von uns auf dem Teppich aufgereihten Travellern je ein bewaffneter Wächter. Frauen und Kinder bekamen wir natürlich nicht zu Gesicht. Auch das gehört zu ihrem Kodex. Und der ist ihnen sehr wichtig. Er bestimmt ihr Leben.
Sie ziehen tatsächlich sehr viel umher – zwischen Sommer- und Winterweide für ihre Tiere. Sie verweilen nicht so lange an einem Ort, dass sie „Wurzeln schlagen“ könnten. Sie haben nicht viel persönliche Habe – eine materiell arme Kultur sagt der Fachmann dazu. Geht ja auch nicht anders. Sie, besser ihre Kamele, müssen ja alles mit sich herum schleppen. Woher aber nehmen diese Menschen dann ihren Halt?
Nun, es ist der Kodex und damit der Clan, der Stamm. Da schleppen sie viel immaterielles Gepäck mit sich herum – eine reiche spirituelle Kultur. Tradition, Geschichten und Mythen sind sehr wichtig. Und ohne die Loyalität des Stammes, die natürlich den Einsatz des eigenen Lebens für die Sicherheit des Anderen einschließt, ist man schon fast tot. Ausgestoßen zu sein heißt – hieß es zumindest früher – zum Tode verurteilt zu sein.
Und darauf wollen wir verzichten? Natürlich wollen wir das. Denn anders wäre sie wieder da, die patriarchalische Großfamilie, die wir gerade überwunden haben. Aber was dann? Kommen wir wirklich so ganz frei schwebend ohne Einbettung in die Scholle oder Einbindung in den Stammesverband aus?
Wo doch auch unter uns, seit unvordenklichen Zeiten Sesshaften, die Mehrzahl nicht ohne den stützenden Glauben an einen gütigen Gott leben kann, der, um seinen 10 Verboten Nachdruck zu verleihen, so ganz nebenbei mit dem dauerhaften qualvollen Feuertod droht. Ja, um der wirksamen Einbindung in eine Gemeinschaft willen folgen wir sogar den Anweisungen seiner selbsternannten Stellvertreter, zahlen Ihnen Zins und zollen ihnen unsere Achtung. Die fatalen Folgen sind aus der Kenntnis der menschlichen Geschichte nur allzu gut bekannt: Bekehrung wider Willen und notfalls mit Gewalt, Religionskriege, Fundamentalismus, Extremismus. Denn das Absolute duldet nun einmal keine Konkurrenz ohne sich zum Banalen entzaubern zu lassen.
Ob wir uns da nicht überfordern? Oder soll später einmal das allumspannende Web mit seinem rund-um-die-Uhr-allways-on diese Lücke füllen? Wer’s weiß, sollte sich nicht zieren, es mir zu sagen.
Horst-Walther